Mühlenspiegel 39

Wie hat für Dich der Krieg angefangen? Am 24. Februar um vier Uhr morgens sind wir von schrecklichen Explosionen aufgewacht. Die Russen haben den Militärflughafen beschossen. Ich sah, dass unsere Nachbarn in Eile die Stadt verlassen haben. Vielleicht war ich damals sehr naiv, aber ich habe nicht geglaubt, dass Russland die Ukraine angreifen wird. Als dann ein Privathaus beschossen wurde und die ganze Familie, die dort lebte, umkam, habe ich es richtig mit der Angst zu tun bekommen. In diesem Moment hat mein Mann zu mir gesagt, dass unser Keller im Falle eines Raketenbeschusses uns nicht schützen würde. Ich wollte nicht fliehen. Alles hielt mich hier fest: meine Heimatstadt, meine Schüler beim Kinderkunstzentrum mit meiner Chorabteilung. Wir haben fünf Chöre für Kinder unterschiedlicher Altersgruppen mit insgesamt 350 Teilnehmern. Irgendwann musste ich die Tatsachen einsehen, und ich flüchtete mit meinen zwei Töchtern nach Deutschland. Mein Mann und Sohn sind geblieben. Seitdem helfen sie bei der Versorgung der Armee. Wie kamst du nach Deutschland?Wie war der Start hier? Gleich in den ersten Tagen haben wir mehrere Hilfsangebote von Freunden bekommen. So sind wir nach Deutschland zu der Familie von Viktor Jerebtzov gezogen, mit der wir seit 20 Jahren befreundet sind. Sie haben mir aus der Melancholie und Hilflosigkeit geholfen. Viktor und seine Frau Svitlana aus Schildow haben nicht nur bei ihren Freunden und Nachbarn für uns gesammelt, sondern fragten uns auch, ob wir Interesse daran hätten, einen Kinderchor zu gründen. So war unser kleiner Chor geboren. Seine Teilnehmer sind die ukrainischen Jungen und Mädchen, die mit ihren Müttern in den deutschen Familien in Mühlenbecker Land ihr neues Zuhause gefunden haben. Man darf dabei nicht vergessen: Das sind Kinder, die unschöne Erfahrungen gemacht haben. Explosionen, Zerstörungen und auch der Weg nach Deutschland war keine angenehme Reise. Zunächst haben wir Gesangstechniken geübt und dann haben wir richtig miteinander gesungen. Später gab es mehrere Proben mit dem deutschen Chor der Regine-Hildebrandt-Schule in Birkenwerder. Da gab es viele Gespräche, viele schöne gemeinsame Momente. Nach und nach hat die Angst nachgelassen. Wenn wir proben, vergessen wir alle – auch ich – die Zeit. Das heißt, dass unsere Energie wechselseitig ist. Wahre Freude und Glück haben wir während unseres Auftrittes auf dem Rathausfest in Mühlenbeck erlebt. Das war unser kleiner Sieg, denn wir konnten mit unserem Auftritt die Zuschauer begeistern. Wie konntest Du Dich in der neuen Umgebung zurechtfinden? Mit wem auch immer ich und meine Landsleute zu tun hatten, wir haben stets Herzlichkeit gespürt und das Streben gesehen, unsere Probleme zu lösen. Nur ein Beispiel: Meine Habseligkeiten und die meiner Töchter passten in einen Rucksack. Wir dachten damals, nicht lange weg zu sein. Unsere Gastfamilie, ihre Freunde und Nachbarn haben sich sofort um neue Kleidung und Schuhe gekümmert. Wir bekamen auch Fahrräder. Ohne sie ist es dieser schönen Gemeinde undenkbar zu leben. Ich habe mich überzeugt, dass die Deutschen ein sehr mitfühlendes Volk sind. Es gibt eine hohe Bereitschaft, uns zu unterstützen. Als ich nach der Flucht zu mir kam, wollte ich nicht untätig sein. Ich habe mich sofort für die Deutschkurse eingeschrieben und von Null angefangen. Zum Glück erklärten sich pensionierte Lehrer aus dem Mühlenbecker Land bereit, die Ukrainer ehrenamtlich zu unterrichten. Sie waren toll und leisteten großartige Arbeit. Wenn Alltagsprobleme gelöst und die neue Lebenssituation akzeptiert sind, was bleibt die größte Sorge? Das größte Problem hängt nicht von den Menschen ab, die uns aufgenommen haben. Der Krieg in der Ukraine ist unvorhersehbar und zieht sich in die Länge. Unsere Vereinbarungen mit den Gastfamilien sind längst abgelaufen. Die Situation ist im Moment so, dass tausende Flüchtlinge Bedarf an Sozialwohnungen haben, die aber nur sehr begrenzt zur Verfügung stehen. Eine andere Schwierigkeit dabei sind die fehlenden Deutschkenntnisse, um erfolgreich Bewerbungsgespräche mit den Vermietern führen zu können. All das macht wenig Mut. Dabei würde ich so gerne endlich mein eigenes Zuhause haben. Auch meinen Beruf nachgehen, wäre mir sehr wichtig. Ich habe ja viele Richtungen, die ich einschlagen könnte, zum Beispiel als Musiklehrerin. Ich kann Klavierstunden für Kinder und Erwachsene anbieten und auch als Vokalistin kann ich arbeiten. Mein Traum aber wäre es, einen eigenen Chor und ein Studio zu haben. Schon jetzt sehe ich, dass es in Deutschland dafür alle Bedingungen gibt. Dann könnte ich sowohl mit den jüngeren als auch mit den älteren Schülern arbeiten. Ich weiß, dass ich meinen Schülern viel zu vermitteln habe. Das Interview führte und übersetzte Nataliya Pysanska, ehrenamtliche Helferin und hauptamtliche Lehrerin für ukrainische Kinder an der Europa-Grundschule in Schildow. Was auch immer geschieht, Musik ist für die Ewigkeit Ein Interview mit Olena Malynovska, der Chorleiterin unser s ukrainischen Kinderchores in Mühlenbeck. Olena kam Anfang März aus Zhytomyr (Zentralukraine). Eigentlich wollte sie nicht lange bleiben, doch aus „wenigen Wochen“ wurden Monate. Und so entschied sie sich, einen Neustart zu wagen. 36 / Unkrainehilfe – ein Zwischenfazit

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