Kommentar eines Helfers aus dem Mühlenbecker Land* / 15 Ich habe die Ukraine das erste Mal 1988 im Rahmen eines Schüleraustausches kennengelernt, damals noch zur Sowjetunion gehörend. Mehr als 30 Jahre später, einige Zeit vor dem russischen Angriffskrieg, standen Städte wie Kyiv, Lviv, Odessa, Charkiv und Dnipro auf meiner Entdeckungsliste. Dank meiner wundervollen Lebenspartnerin durfte ich die Vielfältigkeit, Kultur und Gastfreundschaft der Ukraine erleben. Und dann dieser Morgen des 24. Februar. Sie war zu Besuch bei mir und die Tränen in ihrem Gesicht verrieten mir: Etwas Schlimmes ist passiert. An diesem Morgen fielen Bomben in der ganzen Ukraine, auch in ihrer Heimatstadt, und unsere Gedanken waren bei ihrer Familie in Dnipro. Während ich diese Zeilen schreibe, überfallen mich heute noch intensive Gefühle der Trauer und Wut zugleich. Nun sind Millionen Menschen aus der Ukraine auf der Flucht. Es sind überwiegend Frauen, die ihre Männer, Väter und Brüder verlassen, und Kinder, die sich schmerzhaft von ihren Vätern verabschieden mussten. Es ist wichtig zu verstehen: Sie wollten nicht zu uns kommen, sie mussten. Sie lieben ihr Land. Ich war zweimal in Polen an der Grenze zur Ukraine. Das erste Mal direkt an dem Wochenende nach Ausbruch des Krieges und ein zweites Mal zwei Wochen später. Ich bin beide Male mit den „Flüchtlingszügen“ zurück nach Deutschland gefahren. Diese Bilder des Erlebten werden meine Erinnerung nie verlassen, sie hab en den Blick auf die „Probleme“ in meinem Leben verändert. Ich bin heute noch überwältigt von der Herzlichkeit der he lfenden Menschen direkt an der ukrainischen Grenze, welche den Flüchtenden ein erstes Gefühl der Sicherheit un d Geborgenheit gegeben haben. Ich möchte sehr gern eine kleine Geschichte erzählen, weil ich ein Teil dieser Geschichte bin. Viele Menschen in den Städten der Ukraine haben Angst vor der Flucht. Alles zurückzulass en, sich von geliebten Menschen auf unabseh- bare Zeit zu verabschieden, fällt schwer. So auch einer sehr guten F reundin meiner Lebenspartnerin. Für beide war es ein schönes Leben in Dnipro, mit ordentlicher Arbeit, guter Lebens qualität, vielen Freizeitmöglichkeiten und kultu- rellen Veranstaltungen. Aber die Sirenen aufgrund der Luftangriffe w urden häufiger, die Zeiten im Keller immer län- ger. Als sich eines Abends die Möglichkeit ergab, mit einem Flüchtlin gszug aus Dnipro über Kyiv nach Lviv zu fliehen, hat sich die Freundin meiner Lebenspartnerin dazu entschlossen, ih re Tochter auf den Weg zu schicken. Zwei Tage der Sorge und Angst, einen kilometerlangen Fußmarsch von ihr bis n ach Medyka an der Grenze zu Polen später, haben wir sie in Polen an der Bahnstation abgeholt. Ihre Dankbarke it und Erleichterung habe ich in der Umarmung gespürt, ohne ein Wort zu sagen. Ich habe eine kluge junge Frau ken nengelernt, Mitte 20, abgeschlossenes Studium und Englischlehrerin. Ziemlich gute Voraussetzungen für den Start i n ein neues Leben in einem fremden Land. Sie hat die ersten Tage nach der Flucht eine Unterkunft bei einem herzl ichen Menschen in unserem Mühlenbecker Land gefunden. Ihr und allen Bürgerinnen und Bürgern unserer Gemeinde bin ich dankbar für die Herzlichkeit und Hilfs- bereitschaft, welche den Flüchtenden aus der Ukraine entgegengebr acht wurde und wird. Es hat lediglich zwei Tage Ruhe nach der erschöpfenden Flucht gedauert und sie war voller Ta tendrang, sich zu integrieren, Deutsch zu lernen, keinem zur Last zu fallen. Sie hat sich selbst am Hauptbahnhof in B erlin engagiert, den dort ankommenden Flüch- tenden zu helfen. Inzwischen lebt sie in Berlin, hat ihren Aufenthalts titel erhalten und darf somit arbeiten gehen. Wichtig ist es nun, dass wir diesen Menschen mit verschiedensten H intergründen eine Perspektive geben. Ob nun für immer oder temporär, bis sie in ihr geliebtes Heimatland zurück kehren können. Lasst uns auch um die teils traumatisierten Kinder in den Kindertagesstätten und Schulen küm mern. Dieser Krieg, diese Bilder von Zerstörung, Leid und Tod – alles wird diese Kinder ein Leben lang begleiten. Einig e dieser Kinder werden ihre Väter nicht wieder- sehen, weil sie bei der Verteidigung ihres Heimatlandes gefallen sind . Die traumatischen Erfahrungen können nicht einfach gelöscht werden – sie müssen mit neuen positiven Erfahrun gen überschrieben werden! Diese Kinder sollen nicht das Gefühl bekommen, dass sie etwas Besonderes sind. Sie sind einfach Kinder und möchten Teil dieses neuen Lebens sein. Kinder schaffen das, auch mit vorhandenen Sp rachbarrieren. Das wird wahrlich nicht leicht, aber es ist jede Anstrengung wert. *Name der Redaktion bekannt Verloren, und doch voll Ruhe und Geduld – die Menschen an den Flüchtlingszügen am Bahnhof von Rzepin
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