Buchtipp / 31 Volker Braun ... imGespräch Er zählt zu den bedeutendsten deutschen Schriftstellern, seit Jahrzehnten fängt er den Puls der Zeit in seinen Theatertexten, Gedichten, Romanen, Erzählungen und Hörspielen ein – so auch in seinem aktuellen Buch: „Große Fuge“. Wir trafen den Meister der Beobachtung in seinem Garten in Schildow. Wir haben an Freiheit verloren und an Einsicht gewonnen Fotos: Suhrkamp Verlag, privat Volker Braun Große Fuge, 1. Edition (10. Mai 2021) Erschienen imSuhrkamp Verlag ISBN: 978-3518430217 in der Bibliothek Mühlenbeck zur Ausleihe Wir haben für den Mühlenspiegel zwei Gedichte aus dem Band ausgewählt. Wie sind sie entstanden? Volker Braun: In Schildow, in der merkwürdigen Stille des Frühjahrs 2000. An sich eine gute Bedingung fürs Schreiben, aber es war ja die Stilllegung der ganzen Gesellschaft! Also begann ich ganz sachlich: Die Stadt ist stillgelegt, wie ein Pestpatient Ein Morgenfrieden bis Mitternacht und: ... Katarrh im Kulturbetrieb, einmal All dem (Unfug) Einhalt gebieten, ein Jahr ohne Kunst – und dergleichen leichtfertige Sätze. Wir dachten ja, es handelt sich um zwei, drei Monate. Jetzt sind es zwei Jahre geworden, und die Worte klingen beinahe zynisch. Es begann die Epoche, in der man sich nicht die Hand gibt. Wie grüßt man also: man hebt leicht den Arm – und ich schrieb: Kein Shakehands, doch vorsichtshalber der deutsche Gruß – Hm, fahrlässiges Wort, darf man das sagen? Aber es meint, was es sagt, ein Stück Realität, die ich sehe in dieser erregten Zeit. Am Tegeler Fließ haben wir mit dem Enkel von den Baumstämmen rechte Sprüche weggekratzt. Aus dem einen Gedicht ist dann ein Zyklus geworden. Spielt der Ort, an dem sich der Autor befindet, eine Rolle? V.B.: Nicht unbedingt, aber ‚befinden‘ sagt es ja, und manchmal fließt der Ort in den Text hinein. Und der Pfad, den ich liebe, obwohl er von Pferden zermalmt wird. Das Fließ erinnert mich an Vaucluse in Südfrankreich, wo Petrarca seine Gedichte an Laura schrieb. „Laura am anderen Ufer“, denke ich, und das Gedicht reicht aber dem Flüchtling die Hand hin. Unser Nachbar hatte eben erzählt, daß in Dänemark, wo er kunstvolle Körbe flicht, der Bürgermeister die Eingebürgerten mit Handschlag begrüßt. So entstand, selten genug, ein vielleicht ermutigender Text. Und was haben Sie letztes Jahr gemacht, außer „die Hände gewaschen“? V.B. Hier in Schildow atmet man mit der Natur. Meiner Frau hat der Garten zu danken, sie hat einen grünen Daumen. Im Hochsommer entstand, aus einem Impuls heraus, die „LufPassion“, über das Langboot aus Ozeanien, das von Dahlem ins Humboldt-Forum umzog. Das Boot, als koloniale Erwerbung, ist „preußischer Kulturbesitz“. Wohin es gehört, ist nicht meine Frage. Rückgabe, „Restitution“, ist in einem umfassenden Sinn zu denken, er heißt letztlich Zivilisierung unserer Zivilisation. Was haben wir 2020/21 verloren, was gewonnen? V.B.: Wir haben an Freiheit verloren und an Einsicht gewonnen. Oder ich sag es so: eine Zeit der Besinnung gewonnen, wenn man sie nicht verliert! und ein Zeitalter der Gewißheit verlassen, die wir nicht wiedergewinnen dürfen.
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