Mühlenspiegel 34

Liebe*r Leser_:In+, wie schreiben und sprechen wir gerechtes Deutsch? Von Harald Grimm Wer entscheidet eigentlich, was das ist: „gerechtes“ Deutsch? Viele antworten auf diese Frage: „Der DUDEN!“ Und tatsäch- lich steht schon auf der Umschlagseite des bekanntesten Standardwerkes der deutschen Rechtscheibung, dass die Redaktion dieses Lexikon „auf der Grundlage der amtlichen Regeln“ erarbeitet hat. Amtlich zuständig ist die Kultus- ministerkonferenz der 16 Bundesländer, die sich mit Ös- terreich und der Schweiz, aber auch anderen Ländern, in denen Deutsch als Amtssprache verwendet wird, auf die Anwendung der seit 1996 in Kraft getretenen Rechtschreib- reform verständigt hat. Der DUDEN ist die alltägliche Hilfe zumNachschlagen, denn Deutsch ist auch nach den Refor- men 1996/2005 eine so schwer zu erlernende Sprache, dass selbst Muttersprachler mit Hochschulabschluss längere Texte nicht fehlerfrei zu schreiben in der Lage sind. Rechtlich verbindlich ist das amtliche Regelwerk nur für die Schule. In öffentlichen Einrichtungen und Behörden gibt es allerdings Dienstanweisungen zu seiner Anwen- dung, und die Regierung hat das auch für alle Bundesver- waltungen beschlossen. Die gesprochene und geschriebene deutsche Sprache hat sich über die Jahrhunderte ständig verändert, und wenn heute ein Minnesänger des 12. Jahrhunderts der von ihm verehrten Frau etwas vortragen würde, könnte wohl nur eine Germanistik-Studentin sein Mittelhochdeutsch ver- stehen und ihn erhören. Im Laufe der Sprachgeschichte geraten Wörter und Wendungen in Vergessenheit oder werden neu gebildet, je nach demBedarf, was der Mensch (neu) ausdrücken möchte. Schreibweisen ändern sich, wer- den eingedeutscht und Reformen sollen allen, die Deutsch sprechen oder schreiben, das Verständnis und die Anwen- dung erleichtern. Um die Einheitlichkeit der Rechtschreibung im deutschen Sprachraum zu bewahren, wurde 2004 der „Rat für deut- sche Rechtschreibung“ als zwischenstaatliches Gremium eingerichtet. Seine 41 Mitglieder aus sieben Ländern beob- achten die Entwicklung der Sprache und geben von Zeit zu Zeit Empfehlungen heraus, zum Beispiel am 26. März 2021 zur so genannten geschlechtergerechten Schreibung. Dar- in bekräftigt der Rat seine Auffassung, dass der respektvolle Umgang miteinander „eine gesellschaftliche und gesell- schaftspolitische Aufgabe“ sei, die nicht mit der Änderung von Rechtschreibregeln gelöst werden könne. Verkürzte Formen zur Kennzeichnung mehrgeschlechtlicher Be- zeichnungen seien daher für das amtliche Regelwerk nicht zu empfehlen. Um welche verkürzten Formen geht es? Fernsehzuschauer reagierten unterschiedlich, als sich die ehemalige ZDF-Jour- nalistin Petra Gerster wie auch ARD-Moderatorin Anne Will an die „Zuschauer-Innen“ wandten, statt sie als „Zuschauer“ oder „Zuschauerinnen und Zuschauer“ anzusprechen. Da- mit sollte deutlich gemacht werden, dass nicht nur Männer vor den Bildschirmen sitzen oder dass zum Beispiel einige Bundesländer auch von Frauen, also Ministerpräsidentin- nen regiert werden. Um das in einem Wort auszudrücken, wurde die Schreibweise mit großem „I“ (Binnenmajuskel) verwendet: „Länder-ChefInnen“, gesprochen „Chef-Innen“, also mit kurzer Sprechpause vor dem großen „I“. Da seit 2018 im Reisepass als Geschlecht neben „männ- lich“ oder „weiblich“ auch „divers“ angegeben werden kann, fordern einige Lesben, Schwule, Bisexuelle, Queere, Trans- und Intersexuelle sowie Binäre plus geschlechtlich anders Orientierte (Abkürzug: „LSBQTIB+“), dies auch im schrift- lichen und mündlichen Sprachgebrach zu beachten und niemanden wegen der sexuellen Orientierung außer Acht zu lassen und damit zu diskriminieren. In diesem Zusam- menhang werden in Zeitungen, Zeitschriften und anderen Publikationen verschiedene Schreibvarianten ausprobiert, die als „Gender-Gap“ bezeichnet werden, also als Lücke oder Platzhalter für nicht binäre, d. h. nicht auf „weiblich“ oder „männlich“ beschränkte geschlechtliche Zuordnung. Häufigste Varianten für diese verkürzten Formen sind der Unterstrich (Leser_innen), der (auch Gender- Sternchen genannte) Asterisk (Politiker*innen) und der Doppelpunkt (Bürger:innen). Manche finden diese Schreib- und Sprech- weisen fortschrittlich, andere ärgern sich darüber, weil der Lese- bzw. Sprachfluss gehemmt werde, es sich also nicht um eine Sprachreform zur Erleichterung der Kommuni- kation handele, sondern um willkürliche Instrumentalisie- rung der Sprache für identitätspolitische Vorstellungen. Die Redaktionen wurden mit Leserbriefen überschüttet, heftige Diskussionen entbrannten und sind noch nicht beendet. 52 | GERECHTES DEUTSCH?

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