Mühlenspiegel 32

Das pädagogische Konzept Hengstenberg / 21 Damit diese Kinder ihre freie Bewegungs- entfaltung nachholen können, erfand El- friede Aufgaben und Geräte, bei denen Kinder Lust bekommen, allein zu expe- rimentieren: Leitern, Hocker, Balancier- stangen, Brettchen und vieles mehr. Die Materialien sind der Natur entlehnt und untereinander frei kombinierbar. Statt den ungeschickten Großstadtkindern Trainingsübungen zum einfachen Nach- ahmen zu geben, ließ sie diese selbststän- dig und mit allen Sinnen forschen. Und er- zielte damit Erfolge, die sich auf das ganze Leben der Kinder auswirkten. Hengstenberg & Pikler Vieles aus dem Konzept Hengstenbergs ähnelt der ungarischen Kinderärztin Emmi Pikler (1902–1984). Während die Hengstenberg-Materialien grundsätzlich für Kinder ab vier Jahren gestaltet sind, bietet sich Pikler schon ab dem Säuglings- alter an. Die beiden Frauen kannten sich und waren sich einig, dass Kinder – egal welchen Alters – vor allem zwei Dinge brauchen: Geborgenheit und Autonomie. Wenn der „Geborgenheits-Speicher“ eines Kindes gut gefüllt ist –wenn es zu bestimm- ten Zeiten (z.B. beimWickeln) ausreichend Aufmerksamkeit, Zuwendung und Liebe erfährt – sollte es zu anderen Zeiten völlig autonom und selbstbestimmt spielen und sich bewegen dürfen. Hier setzen unsere Hengstenberg-Kitas an: kein stundenlan- ges Sitzen in der Babywippe, keine pau- senlose Anregung durch die Erzieher mit Aufgaben und Bastelangeboten, sondern festgelegte Zeiten und Gelegenheiten für die Kinder, sich völlig frei auszuprobieren und zu entfalten. Hier in Summt verwandelt sich der große Bewegungsraum im Erdgeschoss mehr- mals pro Woche in ein Spielparadies; er sieht dann irgendwie aus, als hätte jemand ein Riesen-Mikado verstreut. Zwischen zwei großen Holzleitern liegen Bretter und Stangen herum, mit denen die Kin- der nach Herzenslust experimentieren. Und dadurch nicht nur ihre Bewegungs- fähigkeit, sondern auch ihre Persönlich- keit entfalten. Der Alltag ist so organisiert, dass jedes Kind in dieser Kita mindestens eine Stunde pro Woche in den Genuss der Spielstunde kommen. Allein die Anschaffung der TÜV-ge- prüften Materialien tut es da aber nicht. Gleichzeitig haben sich die Erzieherinnen und Erzieher entsprechend weitergebil- det, um die Kinder in ihrer Autonomie pädagogisch zu begleiten. Spielgeräte und Weiterbildungen werden bei uns von der Gemeinde unterstützt und finanziert. Den Anstoß gab die Unfallkasse Berlin-Bran- denburg, die das Projekt „Bewegung à la Hengstenberg“ begleitet und bezuschusst. Jede Hengstenberg-Spielstunde beginnt damit, dass Erzieher und Kinder gemein- sam die grundlegenden Regeln verinner- lichen: 1. Wir spielen barfuß! Wer mit nackten Füßen spielt, erlebt seine Bewegungen bewusster. Die Kinder füh- len die verschiedenen Oberflächen und entdecken, wie sie mit ihren Zehen für ei- nen sicheren Halt sorgen können. 2. Lass dir und den anderen Zeit! Anfeuerungs-Rufe sind unerwünscht. Schubsen und drängeln, meckern und motzen sowieso. Die Kinder nehmen diese Regeln dankbar an und zeigen oft unge- ahnte Geduld und Rücksicht im Umgang miteinander – was sich auch auf die ge- meinsame Zeit außerhalb der Spielstun- den überträgt. 3. Tu nur, was du dir selbst zutraust! Wer sich selbst Zeit lässt, kann sich neuen Herausforderungen Schritt für Schritt an- nähern. So trauen sich selbst Vierjährige manchmal schon ganz ohne Höhenangst auf die Zwei-Meter-Leiter – sobald sie so- weit sind. Ist das auch sicher? Wird das Konzept in einer Kita neu einge- führt, stehen manchmal Eltern und auch Erzieher dem Konzept zunächst skep- tisch gegenüber. Die Bewegungsbrettchen sind wackelig, die Spielleitern ziemlich hoch und geturnt wird dennoch meist ohne Matte – können sich Kinder da nicht schlimm verletzen? Tatsächlich ist jedoch das Gegenteil der Fall: Wie die Unfallkas- se Berlin-Brandenburg festgestellt hat, ist die Anzahl der schweren Verletzungen in den Hengstenberg-Kitas sogar signifikant zurückgegangen – nicht nur während der Spielstunden, sondern im gesamten Kitaalltag. Denn die Kinder lernen, ihren eigenen Körper, seine Fähigkeiten und Grenzen besser einzuschätzen! Das neue Konzept bedeutet nicht nur für die Kinder, sondern auch für Eltern und Erzieher einen Lernprozess. Zu Anfang ist es oft schwer, NICHT zu intervenieren, wenn Klein-Louisa die Hühnerleiter gegen die Wand lehnt, um daran hinaufzuklet- tern. Wir Großen wissen, dass die Leiter abrutschen wird, aber Louisa wird das al- leine herausfinden … Und wenn Klein-No- ah den Einbein-Stand auf der Balancier- stange versucht, zuckt ganz automatisch die Hand, um ihn festzuhalten. Doch halt: Ein Kind, das um seine eigenen Fähig- keiten weiß, zeigt auch auf der hohen Spielleiter keine Höhenangst „Arschbombe, Mädels!“ – in Summt werden die schönsten Sprüche der Kinder aus den Spielstunden oft aufge- schrieben Weg von der Reizüberflutung: Wenig Spielzeug, kaum Regeln und viel Fanta- sie lässt Kinder selbstbestimmt wachsen

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