Mühlenspiegel 30

30 Jahre nach dem Mauerfall – wir trafen Dr. Alwin Schuster / 17 „Schildow sitzt hier!“, mit dieser unmissverständlichen Platzzuwei- sung begann für Alwin Schuster als neugewähltem Schildower Bürgermeister seine erste Dienstberatung mit Amtskollegen in Oranienburg. Das war im Frühjahr 1990. Kurz zuvor, am 15. Dezember 1989, war Schuster im Ort zum Bürgermeister gewählt worden. Vorausge- gangen waren der Rücktritt seines Amtsvorgängers Koch und eine – damals wie heute einmalige – Ausschreibung der Stelle des Gemeindeoberhauptes. Schuster hatte einfach ein Bewerbungs- schreiben eingereicht und war von den Volksvertretern gewählt worden. Mehr als 200 Schildower verfolgten das Wahlprozedere live. Für den damals 35-jährigen Diplompsychologen bedeutete das eine völlige Neuorientierung. Alwin Schuster war zuvor an der Berliner Humboldt-Uni beschäftigt und bis 1989 u.a. als Studenten- berater und in der Forschungs- gruppe „Verkehrsprojekte“ tätig. Seine Doktorarbeit war fertig ge- schrieben, wenn auch noch nicht verteidigt. Sehr genau erinnert er sich an einen Studentenaustausch, der ihn 1988 nach Moskau und Leningrad führte. Dort waren „Glasnost“ und „Perestroika“ gerade unter den jungen Studie- renden an der Uni zu spüren, ein Umbruch bahnte sich an. „Unsere Studenten waren richtig neidisch darauf.“ Nur ein Jahr später sollte es auch im Leben des Schildowers zu einem Umbruch kommen. In jeder Gemeinde gab es damals andere Probleme, erinnert sich Dr. Alwin Schuster. Für Schildow be- stand seit 1987 ein Beschluss des Ministerrates der DDR, großflächig Kleingärten für die Berliner Bevöl- kerung anzusiedeln. Das sorgte für enorme Belastungen, vor allem in der Versorgung mit Lebensmitteln. Im Sommer 1989 startete Schuster eine Unterschriftenaktion im Ort, die auf das Problem aufmerksam machte, und hing selbstge- malte Plakate auf. Mit mehr als 700 Unterschrif- ten ging die Ein- gabe (heute wür- de man Petition sagen) an den damaligen Rat der Gemeinde Schildow. Eine Eingangsbestä- tigung erhielt er nie. Den unbearbeiteten Vorgang fand er im Dezember 1989 im Schreibtisch seines Vorgängers im Rathaus wieder. Glücklicher- weise hatte die Geschehnisse inzwischen den Inhalt überholt. Der in der Politik bis dahin eher unerfahrene Schuster erinnert sich an die erste Zeit im Amt, vor allem nach der Kommunalwahl 1990: „Es war beides, ein leichtes aber auch ein schweres Arbei- ten“. Leicht, weil es weniger Bürokratie, dafür schnelles und selbst- ständiges Entscheiden gab. Schwer, weil immer neue Vorschriften und Gesetze verabschiedet wurden und eine Blockierung „von oben“ kein Einzelfall war. Viele Grundstücksfragen galt es zu klären, aber aus der damals zuständigen Behörde in Potsdam kam immer die gleiche Antwort: „Entschuldigen sie die verspätete Antwort, aber das ist dem Aufbau des Ministeriums geschuldet“. Aber das Miteinander in der Kommunalpolitik war gut damals und auch mit den Nachbargemeinden hatte man schnell eine sehr gute Zusammenarbeit aufgebaut. Persönlich Diskrepanzen habe er nie gespürt, „anders als heute“, so Schuster. Schnell kam er in Kontakt mit den angrenzenden Berliner Stadtbezirken Reini- ckendorf und Lübars. Die erste Runde des Kennenlernens über die Grenze hinweg war noch sehr abenteuerlich, so beschreibt Schuster wie er mit seinem Baudezernenten Kern im Dezember 1989 etwas verloren in Lübars stand – aber zum Glück auf den rührigen Landwirt Joachim Kühne trafen. Beim Gegenbesuch Mit- te Januar 1990 kam eine kleine Abordnung von Berlinern nach Schildow, u.a. der Stadtrat aus Reinickendorf. Sehr freimütig sprach man über die politische Lage, mit all ihren Unsicherhei- ten aber auch Chancen und führte die sehr interessierten Gäste nicht nur zu den wunder- baren landschaftlichen Ausbli- cken gen West-Berlin, sondern auch zu den Liegenschaften der Grenztruppen und den „Mittag-Häusern“ – vier Land- häuser, die der ehemalige DDR- Wirtschaftsfunktionär Mittag für seine Familie bauen ließ. Später gab es eine große Festveranstal- tung, Essen und Gespräche im Reinickendorfer Rathaus. Im eigenen Schildower Rathaus in der Schmalfußstraße traf der neugewählte Bürgermeister auf ein engagiertes Team und ein harmonisches Arbeitsklima. Das zeigt auch die folgende kleine Anekdote: Schuster hatte seine Doktorarbeit zwar bei der Wahl zum Bürgermeister bereits fer- tig, die Verteidigung verschob sich jedoch aufgrund verschie- dener Umstände bis Juli 1991. Das 131 Seiten starke Dokument hatte damals Erika Cipper auf ihrer Schreibmaschine getippt. Endlich kam der Tag – und anschließend die nette Überraschung im Büro: „Schau´n Sie mal hier, das sind noch Fotos aus meinem damaligen Büro“, schiebt mir Dr. Schuster ein paar Farbaufnahmen hin. Zu sehen sind ein bunt geschmücktes Bürgermeisterbüro, eine fröhliche Kollegen- Runde und ein gebastelter Doktorhut. „Haben Sie das nicht mit organisiert und gebastelt?“, fragte er mich. Leider kann ich mich daran wirklich nicht mehr erinnern. Dr. Alwin Schuster war ab 1989 Schildows Bürgermeister; im Zuge der Kommunalreform und der Ämterbildung blieb er danach ehrenamtlich noch bis Mai 1994 im Amt Es war beides, ein leichtes, aber auch ein schweres Arbeiten! Text: Gudrun Engelke Fotos: Gudrun Engelke, privat

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