Mühlenspiegel 30

16 / 30 Jahre nach dem Mauerfall – wir trafen Claudia Geßner Sie ist die wohl dienstälteste Mitarbeiterin im Rathaus Mühlenbe- cker Land und erlebte hier bereits acht Bürgermeister. Die gelernte Finanzkauffrau arbeitet seit Oktober 1987 in unserer Verwaltung – damals noch für die Gemeinde Schildow . Als „Sachbearbeiterin für Handel, Versorgung und Landwirtschaft“ hatte Claudia Geßner in der DDR ein breit gefächertes Aufgabenge- biet: Sie war für die Organisation der Viehzählungen zuständig, die damals durch Ehrenamtliche erfolgten. Im Herbst und Winter gab sie die zugeteilten Kohlegutscheine aus – „Koks war ja eine absolute Rarität!“ – und kümmerte sich um den Ankauf von Eicheln und Kas- tanien für den Wald-Tier-Bestand. Dann gehörte die Kontrolle der Konsum-Läden zu ihren Aufgaben: „Ich bin dann durch die Läden gelaufen. Statistiken waren ja eine ganz große Nummer.“ Auch die „Sekundärrohstoffsammlungen“, kurz „SERO-Annahmen“ (Altpa- pier, Flaschen, Schrott), gehör- ten in ihren Bereich. Daneben war Frau Geßner bereits von Anfang an mit der Zuweisung von Krippen-, Kindergarten- und Hortplätzen befasst. Kinder- reiche Familien bekamen bei Bedarf von ihr Wertschecks zum Kauf von Waren des täglichen Bedarfs. Der Tag des Mauerfalls ist ihr noch gut in Erinnerung – viel- mehr der Tag danach: Wie jeden Morgen fuhr sie mit dem Fahrrad zum Schildower Rathaus, damals noch im Gemeindehaus an der Schmalfußstraße 6. „Die Leute standen bis hinter die Kreuzung, da wo heute der Schreibwarenla- den ist!“ Und alle wollten ins Mel- deamt und sich einen Stempel für die Ausreise in den Westen holen. „Alle Mitarbeiter im Rat- haus, ich auch, wurden ins Mel- deamt beordert. Ich weiß noch, dass wir an diesem Tag – es war ein Freitag – bis 20 Uhr abends stempelten!“ Und keiner wusste so richtig, was eigentlich los ist … „Es war ein- fach chaotisch! Den folgenden Montag haben wir dann auch noch durchge- stempelt, dann sprach sich all- mählich herum, dass man auch ohne Stempel rü- ber kann. Dann hat sich das so eingetrudelt ...“ Die folgende Zeit, so erinnert sich Frau Geßner, empfand sie persön- lich als sehr belastend. Was die allgemeine Angst um den Arbeits- platz bei ihr noch verschlimmerte: Sie war zu jener Zeit gerade schwanger, erwartete ihr zweites Kind. In der DDR hatten Frauen absolut im Fokus der Gesellschaft gestanden. Jeden Monat gab es einen Haushaltstag, bei der Hochzeit gab der Staat großzügige Ehekredite, die manchem Paar eine komplette Erstausstattung er- möglichten. 1984, als sie ihren Sohn zur Welt brachte, war Claudia Geßner mit dem Kleinen vier Jahre zuhause geblieben und konnte danach problemlos wieder in den Job einsteigen – zunächst ver- kürzt und später auf eigenen Wunsch wieder in Vollzeit. Das wagte sie in der Wendezeit nicht mehr: „Ich war ein Jahr zuhause, länger habe ich mich gar nicht getraut wegzubleiben. Diese Emanzipation der Frau kam ja nach meinem Empfinden erst viel später.“ So ging ihre Tochter dann auch früh in die Krippe. „Dass wir den Platz auf Anhieb bekommen haben, war absolutes Glück. Das war zu dieser Zeit schon ziemlich schwer, ganz im Gegenteil zu DDR-Zeiten!“ Sie selbst ging ab 1991 wieder ins Amt – natürlich von Anfang an in Vollzeit. „Als ich 1991 wiederkam, das war ein absoluter Bruch!“ Als tiefgrei- fend empfand sie das veränderte Miteinander der Menschen: „Das war dramatisch. Viele unterstellten unserem damaligen Bürger- meister Olaf Koch Verbindungen zur Stasi und zur SED. Ich weiß nicht, ob die Vorwürfe stimmen, dass er sich widerrechtlich ein Grundstück besorgt habe. 1989 wur- de Dr. Schuster als neuer Bürger- meister gewählt. Aber die Familie von Koch hat sehr gelitten, auch die Frau und die Kinder. Koch war gra- de Vater von Zwillingen geworden. Da haben sie sogar in den Kinder- wagen gespuckt! 1992 hat Koch sich dann das Leben genommen ...“ Im Verwaltungsalltag verschob sich Claudias Aufgabenbereich zunehmend in Richtung Familie und Kita. „Ich habe die neuen Themen damals auferlegt bekommen, aber das macht mir bis heute Spaß!“ Auch die Verwaltungsarbeit an sich ver- änderte sich. „Der Kreis hat 93/94 aus den alten Bundesländern Kader bei uns reingeschickt, u.a. Herrn Brömel. Die haben bei uns westliche Verwaltungsstrukturen aufgebaut. Die meinten ja, wir hier im Osten hätten alle nicht gearbeitet! Wir wurden auf Verwaltungsschulen geschickt – wir waren ja alle 'Quer- einsteiger', wie man heute sagt. Ich machte neben der Arbeit zwei Jahre lang eine Ausbildung in Wandlitz.“ Blickt sie heute auf diese Zeit zu- rück, dann ist Claudia Geßner doch ganz zufrieden: „Das hat schon was mit einem gemacht, man musste von Null auf Hundert mit den neuen Gegebenheiten klarkommen. Aber für mich standen die Familie und meine Kinder immer an erste Stelle. Und ich glaube, das habe ich ganz gut hinbekommen: Meine Kinder sind zu ganz lieben, bodenständigen, wertschätzenden Menschen geworden, die das Wesentliche im Leben erkennen und auch meinen Enkelkindern weitergeben.“ Diese wesentlichen Werte vermisst sie in der heuti- gen Gesellschaft manchmal: „Stress hatte ich im Osten nicht! Den habe ich jetzt! Aber es gab auch so ein allgemeines Zufriedenheits- gefühl im Osten, so habe ich das empfunden – kein Kosumglück, wie es dann zu uns herüberschwabbte. All dieses Fordern und Stöhnen auf hohem Niveau, das mag ich bis heute nicht! Man kann doch auch einfach mal zufrieden sein.“ Dabei lehnt sie natürlich längst nicht alle Kosumgüter des Westens radikal ab: „Im Osten gab es ja nur sogenannte Grundnahrungsmittel – Brot, Butter, Kartoffeln, Äpfel. Von meinem ersten Westgeld kaufte ich mir stinknormale Fischstäbchen! Die essen wir bis heute gern. Und meine Lieblings- vitamine sind bis heute Bananen und Orangen, die bekam man ja damals maximal unterm Ladentisch oder zu Weihnachten Claudia Geßner arbeitet als Fachdienstleiterin für Kita, Schule und Jugendarbeit im Mühlenbecker Land All dieses Fordern und Stöhnen auf hohem Niveau! Text: Rita Ehrlich � Foto: Sandra Freund

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