Mühlenspiegel 30

Christiane Ziller war in der Wendezeit politisch sehr aktiv. Sie kämpfte für einen „demokratischen Sozialismus“, wie sie sagt. Dem Mühlenspiegel erzählte sie, wie sie den Umbruch erlebte ... „Als die DDR in ihr letztes Jahr eintrat, war ich 26 Jahre, meine Kinder zwei und drei Jahre alt. Ich lebte mit meinem Mann in Berlin und hatte erste berufliche Erfahrungen als Regieassisten- tin und Operndramaturgin an einem Stadttheater und an einer großen Opernbühne gesammelt. Durch mein thüringisches Elternhaus war ich in die kirchliche Oppositionsbewegung quasi hineingeboren. Für mich war der Herbst ´89 bis zum 9. Novem- ber eine beglückende – trotz der Risiken, die alle aktiven Oppo- sitionellen damals noch auf sich nahmen. Unvergesslich ist der Moment, als sich am 7. Oktober die Geräusche aus dem eigenen Fernseher – Tagesschau – und die gleichen Geräusche auf der Straße mischten. Geschichte live. . Wir wohnten in der Nähe der Gethsemane-Kirche. Ich sah die Demonstranten an unserem Haus vorbeiziehen, die zivilen Stasis ihnen folgen, und lief selbst zur Kirche, während mein Mann zu Hause blieb, um die Kinder zu schützen. Nur durch Zufall entging ich in dieser Nacht der Verhaftung. Diese drei Tage, bis der drohende Militäreinsatz abgewendet war, prägten mein weiteres Leben. Der 4. Novem- ber war der hoffnungsvollste Tag meines politischen Lebens. Als Ordnerin bei der Großdemons- tration in Ostberlin – erkennbar an der grüngelben Schärpe „Keine Gewalt“ – glaubte ich zum ersten Mal, dass der dritte Weg für unser kleines Land eine echte Chance hätte. Fünf Tage danach brach meine Euphorie in sich zusammen. Mit der Mau- eröffnung war mir klar, dass nun erst einmal alle würden reisen wollen. Und dass Kohl und Konsorten ihr eigenes Süppchen kochen würden. Die Zeit nach dem Mauerfall war unglaublich intensiv: Partei- gründung beim „Demokratischen Aufbruch“, mein Wechsel zur Bürgerbewegung „Demokratie Jetzt“, die Arbeit am zentralen Runden Tisch, Mitarbeit in der ersten freien Volkskammer, Geset- zesformulierungen, Hörfunk- und Fernsehrat, Medienkontrollrat, die Leitung zweier Wahlkämpfe – und in dieser Zeit des Aufbruchs immer wieder Rückschläge und Demütigungen. Sowohl von westdeutscher Seite, wo man das Überspringen des jung-demokra- tischen Feuers unbedingt verhindern wollte, als auch vom Osten selbst, wo die Bevölkerung von De Maizière, Krause „and friends“ in den entmündigenden Anschluss geführt wurde. Unser Kampf um einen eigenen DDR-Nachfolge-Rundfunksender (ODR) scheiter- te denn auch an beiden Fronten. Der Weg ans Theater zurück wäre damals für mich kaum mög- lich gewesen. Auch in der Kultur waren die Weichen inzwischen anders gestellt, die Kunst verlor ihre gesellschaftsgestaltende Kraft. Also blieb ich in der Politik, gestaltete die Fusionen zum Bündnis´90 und zwei Jahre später von B´90 und Grünen maß- geblich mit, arbeitet parallel als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bundestag und lernte die westlichen Bundesländer und deren Eigenheiten recht gut kennen. Eine wichtige Erfahrung war, dass ich als bekennende „Hierbleiberin“ 1991 berufsbedingt nach Bonn „auswanderte“. Mit meiner ganzen Familie. Das war auch eine gute Zeit, vor allem für die Kinder. Für mich allerdings wurde der bundespolitische, besser der westdeutsche, Kontext meiner Arbeit im Bundestag und im Bundesvorstand von B´90/Grüne immer schwieriger zu ertragen. Und so stieg ich 1996 aus der Berufspo- litik aus, kehrte samt Familie in die alte Berliner Wohnung zurück und begann zum wiederholten Male auch beruflich von vorn. Die ehemalige Teilung spüre ich bis heute auch im Alltag. Die verschie- denen soziokulturellen Prägungen zeigen sich heute sogar unvermit- telter, auf beiden Seiten. Auch bei denen, die sie negieren. Dabei kann man weder die in der DDR noch die in der BRD Sozialisierten über einen Kamm scheren. So vielfältig ist das Zusammentreffen. Verletzt haben mich ostdeutsche Selbst- verleugnung und westdeutscher Anpassungsdruck gleichermaßen. Ich hätte mir mehr Begegnung auf Augenhöhe gewünscht. Die DDR-Geborenen erzwangen einen Systembruch, mussten ihn aber auch überleben – die Enteignung, die Abwertung von ihrer gelebten Geschichte, während sich die BRD- Geborenen als Sieger fühlen konn- ten ohne eigenes Zutun … Ich habe schon immer einen innerdeutschen interkulturellen Dialog gefordert, aber das fand kaum ein Echo. Heute haben wir die AFD, die die ostdeut- schen Verletzungen missbraucht, und an der Stelle des von uns geforderten Dialogs mit allen ist die „Hate-Speech“ getreten. Insgesamt bedeutet dieses Jubiläumsjahr für mich das Wiedererleben einer großen Hoffnung und einer großen Enttäuschung – und die Motivation, in meinem demokratischen Engagement nicht nachzulassen.“ KEINE GEWALT! – Bürgerrechtlerin Christiane Ziller mit der Originalschärpe vom 4. November 1989; die 63'lerin ist heute freiberuflich als Mentalcoach tätig 5 Tage danach brach meine Euphorie in sich zusammen! 30 Jahre Wiedervereinigung – wir trafen Christiane Ziller / 15 Christiane Ziller im Präsidium bei der Gründungs- versammlung des „Demo- kratischen Aufbruch“ am 29. Oktober 1989, mit Rainer Eppel- mann (re) Das Interview führte: Jürgen Nass Fotos: Fotogruppe SichtWeisen, Friedrich Schorlemmer

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