Mühlenspiegel 29

12 Die Zühlsdorferin Anni Schwengber Eine Zeitzeugin D ie zwei Stunden, die ich bei Anni Schwengber am Wohn- zimmertisch sitzend Notizen mache und dann und wann ein Foto schieße, vergehen wie im Fluge. Sie, die im Jahre 1927 unweit von Zühlsdorf in Stolzenhagen das Licht der Welt erblickte, hat viel zu erzählen. Es ist nicht irgendeine Lebensgeschichte. Es ist eine Geschichte über Zühlsdorf – unser beider Zuhause. Lebhaft und mit strahlenden Augen- sitzt Oma Anni vor mir. Die 92 Jahre sehe ich ihr beim besten Willen nicht an. Mit vier Jahren, so erzählt sie, zieht sie mit Vater und Mutter sowie ihrer drei Jahre älteren Schwester nach Zühlsdorf um. In die Dorfstraße zu ihren Großeltern, die eine kleine Landwirtschaft haben. Eine Landwirtschaft, wie sie von vielen der damals ca. 700 Einwohner betrieben wird: ein Familienbetrieb, in dem jeder von klein auf mitzuarbeiten hatte. Das ehemals kleine Dorf blickt auf ein relativ schnelles Wachstum zurück: Nicht zuletzt dank der von Berlin nach Liebenwalde führenden Heidekrautbahn wird Zühlsdorf zu einem gut besuchten Ausflugsort. Es entstehen Restaurants und Pensionen. Auch die eigene Familie wächst: 1937 wird der Bruder geboren. „Meine Kind- heit“, so erinnert sich Anni Schwengber, „verbrachte ich mit Versteckenspiel und Hopsen. Murmeln, Springseil und Ball wa- ren das einzige Spielzeug. Eine schöne Zeit, war man doch mit wenig schon zufrieden: Mit Holzpantinen als Sonntagsschuhen, mit Kleidern, die man auftragen musste und die häufig ein paar Nummern zu groß waren.“ Die Volksschule war gleich um die Ecke. Anfangs unterrichteten zwei Lehrer in einem Raum die 1. bis 4. Klasse, in einem anderen die 5. bis 8. Klasse. Später, als einer der Lehrer für Hitler an die Front ge- hen musste, gab es nur noch einen Lehrer für die ganze Volksschule. 1942 absolviert sie ihr Pflichtjahr als Haushaltshilfe bei einem der Bäcker in Mühlenbeck: Ohne Urlaub, sechs Tage die Woche und zehn bis zwölf Stunden Arbeitszeit täglich. Der Empfehlung ihres Vaters folgend nimmt Anni Schweng- ber danach eine Lehre als Schneiderin auf. „Gemeinsam mit einem Mädel aus Oranienburg hatte ich da mehr sauber ma- chen, als dass wir das Schneidern gelernt bekamen.“ Nach sieben Monaten bricht sie diese Lehre, die keine ist, ab und beginnt eine in der kaufmännischen Abteilung der Brandenburgischen Motorenwerke – der BraMo. Zwei Jahre lang bis zum Ende des Krieges. Fliegeralarme gibt es viele in den Jahren des Krieges. Direkte Angriffe auf Zühls- dorf sind eher die Ausnahme: So gibt es 1942 und 1943 Tieffliegerangriffe der Engländer auf das Werk der BraMo. Nie vergessen aber wird sie den 22. März 1944: Das über mehrere Stunden gehende Bom- bardement durch die US Air Force. „Es war ein wunderschöner Sonnentag – danach war der Himmel schwarz.“ Anni Schwengber kann sich vor den Bomben retten. Hunderte andere nicht. „Es waren auch Jungs aus dem dritten Lehrjahr unter den Toten – und vor allem Zwangsarbeiter“ . Auch an die Zeit vor dem Angriff kann sie sich genau erinnern: „Einige Tage davor regnete es Flugblätter vom Himmel. Auf denen stand: BraMo, wir haben Dich!“ Am 20. und 21. April wird Zühlsdorf und damit auch die BraMo von der Roten Armee eingenommen: „Albert Töpper, der damalige Bürgermeister Zühlsdorfs geht den anrückenden Truppen mit einem weißen Laken entgegen – und verhin- dert damit das Schlimmste. Der Krieg ist vorbei!“ Zeit der Not, Zeit der Fremde Nicht vorbei ist die Not. Zwangsabgaben – nun an die Sowjetische Kommandantur – schmälern den Ertrag des Familienbetrie- bes, der nun von ihrem Vater weitergeführt

RkJQdWJsaXNoZXIy NzY5NzY=