Mühlenspiegel 21

6 Pfarrer Bernhard Hasse Evangelische Gemeinde Mühlenbeck / Schildow Pfarrer Albrecht Preisler Evangelische Gemeinde Zühlsdorf Pfarrer Thomas Treutler Katholische Gemeinde Schildow Pfarrer Werner Rohrer Evangelische Gemeinde Bergfelde-Schönfließ Bernhard Hasse Albrecht Preisler Thomas Treutler Werner Rohrer Eins, zwei, drei, vier, fünf – noch zweiunddreißig bis zur Haustür. Er zählt die Gehwegplatten von der Ecke bis zum Haus. Eins, zwei, drei – die Eingangsstufen bis zur Haustür. Eins, zwei, drei, vier, fünf Handgriffe bis er im Haus ist. Tasche abstellen, Ja- cke ausziehen. Acht Schritte zur Toilette, zehn zur Küche, zwölf bis zum Wohnzimmerfenster. Dort steht er um diese Jahreszeit am liebsten, weil man das Leben in den anderen Häusern und auf der Straße im Dunkeln besser sehen kann. Bei ihm ist schon lange kein Leben mehr. Wüste. Fast zehn Jahre, genau 112 Monate und 17 Tage, ist kein Leben mehr. Da ist sie gegangen für immer. Krebs. Seitdem hasst er sogar seinen Geburtstag im Juli. Irgendwann war es sogar den Kindern zu viel mit ihm. Erst ist der Kontakt zum Sohn eingeschlafen, dann hat die Tochter nach dem großen Krach nicht mehr angerufen. Besuch hatte er schon seit zwei Jahren, sechs Monaten und drei Tagen nicht mehr. Auch die alten Kollegen kommen nicht mehr. Elf Schritte bis zum großen Kleiderschrank im Schlafzim- mer. In der linken Schrankhälfte stehen sie: zehn Kisten mit Weihnachtsschmuck. Sie hatte sich immer einen freien Vormit- tag ausbedungen. Er ist dann in die Stadt gefahren, bummeln, Einkaufsliste, Bockwurst. Wenn er dann wiederkam, sah die Wohnung verändert aus. Im Wohnzimmer stand ein Schwib- bogen im Fenster, auf jedem freien Platz Kerzen. Und als Prachtstück die vierstöckige Pyramide. Er hatte damals zwei Stunden und vierzig Minuten anstehen müssen. Aber die Überraschung war gelungen. Im ersten Jahr ohne sie hatte er noch überlegt, die Kisten auszupacken. Aber es fühlte sich nicht richtig an. Die Einladungen der Kinder hatte er mit wohlüberlegten Entschuldi- gungsgründen abgelehnt. Es war von Jahr zu Jahr unmöglicher geworden, die Kisten heraus- zuholen, sich zu entschuldigen. Inzwischen bleiben die Einladun- gen der Kinder aus. Jetzt steht er jeden Tag eine halbe Stunde vor dem Schrank und starrt auf die Kisten. Er kann nicht anders. Er kann sich nicht bewegen. Es klingelt an der Tür. Zwölf Schritte. Draußen steht der junge Mann von der anderen Straßenseite. Seit zehn Monaten und vier Tagen wohnt die Familie schon da. Vater, Mutter, zwei Kinder. Er mag Kinder. Wenn sie beim Spielen laut werden, stört ihn das gar nicht. Vom seinem Fenster kann er ein Stück des Wohnzimmers sehen und die Küche. Am Anfang gab es die übli- chen Floskeln. Woher kommen Sie, was arbeiten Sie, wie heißen die Kinder, wie alt? Seitdem immer artige Grüße, wenn man sich auf der Straße begegnet. Wenn er der Familie beim Essen zusieht, dann wird ihm leicht und schwer ums Herz zugleich. Der Vater behält beim Reden manch- mal das Messer in der Hand und unterstreicht seine Worte mit Gesten. Das hat seine Frau auch oft gemacht. Es wird viel gelacht. Auch dort steht jetzt ein Schwib- bogen im Fenster, ein moderner, mit bunten Lichtern, die blinken. An jeder Küchenschranktür ist ein kleiner Tannenzweig befes- tigt. Er hat zugesehen, wie die Kinder dabei geholfen haben. Durch die herzliche Barmher- zigkeit unseres Gottes wird uns besuchen das aufgehende Licht aus der Höhe, damit es erschei- ne denen, die sitzen in Finsternis und Schatten des Todes, und richte unsere Füße auf den Weg des Friedens. (Lukas, Kapitel 1). Der junge Mann sucht nach Worten. Er und seine Frau hätten sich gefragt, fängt er an. Also, sie wollten ihm nicht zu nahe treten, man hätte eigentlich schon im Sommer gewollt – ob er nicht heute zum Abendessen kommen wolle, danach vielleicht noch ein Glas Glühwein, es sei ja schließlich Advent. Ehe er weiß, wie ihm geschieht, sagt er ja. Er könne gleich mitkommen, sagt der junge Mann. Jacke, Schlüssel, drei Stufen, dreißig Schritte über die Straße. An der Tür ist ein Weihnachtsmann befestigt. Der sieht aus wie selbstgemacht. In der Hand hält er ein Schild auf dem „Willkommen“ steht. Die Kinder sind erst scheu, dann freundlich. Sie erzählen viel. Er genießt es, einfach nur zuzuhö- ren und zuzusehen. Das Essen ist schnell vorbei, die Kinder im Bett, der Glühwein ist heiß. Es wird Zeit zu gehen. Sie habe noch etwas für ihn, sagt die junge Frau. Ein kleiner Strauß Tannengrün, mit Anhän- gern, die ganz offensichtlich von den Kindern selbst gemalt und ausgeschnitten sind. Er kann sich nicht beherrschen, seine Augen werden feucht. Danke- schön kann er aber noch sagen. Als er zurück ist, nimmt er eine Vase aus dem Schrank und stellt die Tanne hinein. Die Vase steht jetzt mitten auf dem Couchtisch. Dann geht er an den Kleiderschrank und öffnet zum ersten Mal allein die Kisten. Zwei Kerzenleuchter für den Tisch, der Schwibbogen fürs Fenster. Und die Pyramide bekommt wie- der ihren Ehrenplatz. Wie viele Minuten war er drüben? Er hat ganz vergessen zu zählen. Der Advent fängt an. Es müssen nicht die großen Sa- chen sein. Das Kind im Stall von Bethlehem war klein. Es wächst. Es lässt den Frieden in unseren Herzen wachsen. Es lässt uns zu Friedensboten werden. Ihnen und Ihren Familien wünschen wir eine frohe und gesegnete Advents- und Weih- nachtszeit. Alles hat seine Zeit Eine besinnliche Botschaft zum Fest der Liebe WEIHNACHTEN BOTSCHAFT

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