Mühlenspiegel 20

13 PORTRAIT GEMEINDESPIEGEL die Geschichte eines Dorfes“. Sie fühlte sich der „schrei- benden Zunft“ zugetan und erlangte 1964 über ein Zei- tungsvolontariat den Fach- schulabschluss in Journalistik. Ihr Vater hatte ja der Achtjähri- gen eine Antwort auf die dum- me Frage eines Erwachsenen nach dem Berufswunsch schon vorweggenommen. „Bibliothe- karin wird sie, oder Journalis- tin…“. Mit ihrer ersten Auslands- reise 1965 nach Kraków kommt da noch etwas hinzu. Die Stadt, die Menschen, die Sprache, all das übte einen starken Reiz auf sie aus! Es ist ein Gefühl der Vertrautheit, welches sich in ihr breit macht, „als ob eine bis dahin unbekannte Seite meines Lebens aufgeblättert würde.“ Da ist etwas in jener Lebensart, was sie anspricht. Von nun an bestimmen pol- nische Sprache, Literatur, Kunst und Kulturgeschichte ihr beruf- liches Leben mit. Und auch ihr Nichtberufliches. Sie absolvier- te an der Berliner Humboldt- Universität ein Abendstudium, das sie 1973 als Diplom-Polo- nistin abschloss. Sigrid reist oft nach Polen, knüpft vielfäl- tige Freundschaftsbande, ist in der Kulturszene unterwegs und vertieft ihre Sprachkennt- nisse. Für sie sind in jener Zeit der DDR die Reisen ins Nach- barland zu einer indirekten Republikflucht geworden, zu ihrer Nische, wie sie es später beschreibt. Inzwischen war sie Lektorin für polnische Litera- tur im renommierten Aufbau- Verlag Berlin. Ab 1979 arbeitete sie freiberuflich. Sie übersetzte polnische Literatur, u.a. Rey- mont und Grabiński, aber auch polnische Volksmärchen und die nicht weniger berühmten fantastischen Erzählungen. Sie schreibt für Zeitschriften Re- portagen und Betrachtungen über polnische Kultur und Le- bensweise, rezensiert Bücher für den „Sonntag“ und betreut als Dolmetscherin polnische Theaterkünstler. „Über-Leben in Freiheit“ betitelt Sigrid Moser eine ih- rer Geschichten über die erste Zeit nach 1989. Es begann eine Phase der Arbeitssuche und der Neuorientierung. Irgendwie kam sie über die Runden, mit schlecht bezahlten Aufträgen in Verlagen, als Reiseführerin. Einige Wochen jobbte sie als Garderobenfrau im Theater am Kurfürstendamm, eine Episo- de, die sie später in einer Kurz- geschichte verarbeitet („April- geschichten“). Von Anfang an gehörte sie zur Gruppe „Frauen schreiben Texte“ im Pankower Frauenzentrum „Paula Pan- ke“. Die Gruppe, die sich unter Anleitung der Schriftstellerin Elisabeth Schulz-Semrau traf, veröffentlichte regelmäßig lite- rarische Proben unterschied- licher Genres unter dem Titel „Feder Lesen“: Erzählungen, B e t r a c h t u n - gen und Rom- anfragmente, Portraits, Glos- sen und Ge- dichte. Sigrid Moser liegen die Geschich- ten mit auto- biografischem Hintergrund, das Eintauchen in die Ver- gangenheit, dabei berührt sie durch ihren detaillierten Blick auf Personen und scheinbar all- tägliche Erlebnisse. Und so wiederholt sich auch ihre persönliche Geschichte: Haben sie die Sommermo- nate in Mühlenbeck an ihre glückliche Kindheit erinnert, so bekam sie nun 1991 vom Pfarramt Mühlenbeck das wunderbare Angebot, in einer zweijährigen Arbeits-Beschaf- fungs-Maßnahme (kurz ABM) eine ganze Dorfgeschichte, die Geschichte von Mühlenbeck, niederzuschreiben. Sigrid Mo- ser wurde Dorfchronistin. Bald wurde die Frau mit dem apar- ten Kurzhaarschnitt zu einer „Geschichten-Sammlerin“ und die „Geschichte(n) rund ums Mühlrad“ schafften eine Ver- bindung „zwischen dem Einst, dem Jetzt und dem Morgen“, wie Pfarrerin Hedda Bethge im Vorwort treffend ausführt. Es folgten 1997 zum 100. Jahrestag der Dorfkirche die „Geschich- ten aus der Schildaue“. Inzwischen ist Sigrid Moser 83 Jahre alt und noch immer in ihrer Kirchengemeinde aktiv. Das ist gut, meint sie, da merkt man das Alt-Werden nicht. Gern nimmt sie teil an Treffen mit der Eindhovener Partner- gemeinde oder an Reisen und Ausflügen mit der Schildower Frauengruppe. Geschichten, ob große oder kleine, gibt es immer wieder und überall zu erleben. Sie selbst hat ab 1992 rund zwanzig Reisen für die beiden Kirchengemeinden und ihre Partner aus Wittenau und Holland in das von ihr geliebte Nachbarland Polen organisiert und betreut. Diese Gemein- schaften und immer auch die Verbindung mit Freunden ha- ben mitgeholfen, ihr die fehlen- de Familie zu ersetzen. Das Le- ben erfüllt einem nun mal nicht alle Wünsche. „Schreiben ist schön“ das ist ihr Credo. Ihre Schilderungen und Kurzgeschichten, auch ihre kleinen Porträts für den evan- gelischen Gemeindebrief, er- zählen eine Menge; es sind Le- bensberichte, die den richtigen Ton treffen und nachklingen in den Herzen der Leser. Tipp: Die Chroniken „Geschichte(n) rund ums Mühlrad“ (1994) und „Ge- schichten aus der Schildaue“ (1997) liegen in der Bibliothek Mühlenbeck aus. Text: Gudrun Engelke Fotos: Fotogruppe SichtWeisen, privat Der Laden des Großvaters Heinrich Moser in Mühlenbeck Urlaub an der Ostsee Unterwegs mit einer Reisegruppe in Gdansk

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