Mühlenspiegel 11

44 S o aufreibend sich die Kriegsjahre für die Ei- senbahn gestalteten, so turbulent waren auch die ers- ten Wochen und Monate nach dem Friedensschluss. Mit der Novemberrevolution und dem Ende der Monarchie brach für weite Kreise der Bevölkerung eine neue Epoche an. Gewalti- ge Umwälzungen sozialer und politischer Art standen bevor. Unübersehbar prägte das Zeit- geschehen auch die Geschichte der ,,Reinickendorf-Liebenwal- de-Groß-Schönebecker Eisen- bahn-Gesellschaft“ jener Tage. Die Gefahr der kriegsbeding- ten Inflation vor Augen, sicher- te die Bahngesellschaft ab 1918 ihr Vermögen durch Käufe von Grundstücken und Gebäuden auch außerhalb ihres Strecken- netzes. Der erstmals gebildete Be- triebsrat setzte den Abschluss von Tarifverträgen, die Gleich- stellung der Beamten mit Staatsdienern sowie den Acht- Stunden-Tag durch. Einen Großteil der jetzt erworbenen Wohnungen konnten Beamte und Angestellte der Heide- krautbahn zu günstigen Kondi- tionen mieten. Hierdurch und mit anderen mode- raten Zugeständ- nissen gelang es dem Vorstand, den inneren Frieden im Unternehmen zu bewahren. Vor die- sem Hintergrund beteiligten sich keine Beamten und nur wenige Arbeiter der Bahn am von den Gewerk- schaften wegen des Kapp- Put- sches ausgerufenen General- streik vom 17. bis 21. März 1920. Zwar konnte der Streik ver- h i n d e r n , dass rechts- g e r i c h t e t e Militärs die Regierungs- gewalt über- n a h m e n ; z u g l e i c h entstand der Bahn erheb- licher wirt- schaftlicher Schaden, da über zehn Tage lang – abgesehen von den abendli- chen Milchlieferungen – keine Güter nach Berlin transportiert werden konnten und die Be- rufspendler ausblieben. Sobald sich die politische Situation beruhigt hatte, ging auch die Gesellschaft wieder zum Tages- geschäft über. Dem bereits 1919 eingereichten Konzessionsan- trag zur Streckenerweiterung von Liebenwalde nach Zehde- nick folgte die Schlussvermes- sung der geplantenNeubaustre- cke zwischen Liebenwalde über Höpen bis Neudorf. In Basdorf wurden umfangreiche Erwei- t e r u n g s - a r b e i t e n vorgenom- men, der F a h r z e u g - park um neue Per- sonen- und Güterwagen aufgestockt, die Einbin- dung in die Staatsbahn am Bahnhof Rei n icken- dorf-Schön- holz neu ge- regelt. Und auch die Politik ging wieder zur Tagesordnung über. Drin- gendstes Anliegen auf kommu- nalpolitischer Ebene war der Zusammenschluss der vielen kleineren Orte und Städte im Berliner Einzugsgebiet zu ei- nem einheitlichen ,,Groß-Ber- lin“ am 1. Oktober 1920. Sieben Städte, 59 Landgemeinden und 27 Gutsbezirke wurden der Metropole eingegliedert, die mit 3,8 Millionen Einwohnern zur größten Industriestadt Eu- ropas avancierte. Und das soll- te auch für die Heidekrautbahn Folgen haben. Lagen zuvor vie- le Grundstücke, Bahnhöfe und Gleise im Landkreis Nieder- barnim, so gehörten sie jetzt zu Berlin. Entwicklungen ganz an- derer Art zeichneten sich zur selben Zeit auf ökonomischem Gebiet ab. Die gleich nach Kriegsende einsetzende schlei- chende Geldentwertung entwi- ckelte sich innerhalb weniger Monate zur galoppierenden Inflation. Die Bahngesellschaft versuchte verzweifelt, jedwede Geldeinnahme sofort in Koh- len oder andere Waren um- zusetzen, um so wenigstens ein Bruchstück des Wertes zu retten. Doch vergebens: Bin- nen Stunden wurden Billionen Mark entwertet, das Geld war sein Papier nicht wert. Der gan- ze Spuk war erst mit der Wäh- rungsreform 1923 vorbei. Für eine Billion Papiermark gab es eine Rentenmark, die 1924 durch die Reichsmark ersetzt wurde. Die ,,Goldenen Zwanzi- ger“ konnten beginnen. Die Bahn muss- te lernen mit der Konkurrenz zu leben. Der Aus- flugsverkehr war so lukrativ, dass Bus- linien parallel zur Bahn eröffneten, Die Heidekrautbahn 114 Jahre Geschichte und Geschichten – Teil 2 Mit der Bahn zum Dampfer: Schiffsverbindung vom Bahnhof Ruhlsdorf-Zerpenschleuse aus Großstädter im Grünen: Ein Werbeplakat aus den 30er Jahren

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