Mühlenspiegel 10

41 HEIDEKRAUTBAHN CHRONIK gebung erscheinenden Zeitun- gen teilnahmen. „Das kleine Journal“ brachte daraufhin in seiner Morgenausgabe des 14. Juni 1901 folgenden Beitrag: Die Einweihung irgendeiner neuen Bahnlinie mitzuma- chen, war der Traum meines Herzens. Und da begnügte ich mich damit, der freundlichen Einladung zu folgen, die mich für gestern Nachmittag zur Besichtigung der Nebenbahn Reinickendorf-Liebenwalde Groß Schönebeck rief. Ich muss gestehen, ich war auf das Schlimmste gefasst, weil ich schon sogenannte „Bim- melbahnen“ frequentiert habe, gegen die das Tempo, das z.B. auf der Bühne der Frau Nuscha Butze 1 in manchen Schwän- ken angeschlagen wurde, eine wahre Schnellzuggeschwin- digkeit genannt werden muss. Außerdem regnete es in un- angenehmster Weise, als ich um 1 Uhr Mittags zum Stet- tiner Bahnhof fuhr, und die Aussicht, dass man in Reini- ckendorf umsteigen musste, stimmte mich auch nicht gera- de vergnüglicher. Ich muß ge- stehen, ich habe keine Vorliebe für Reinickendorf, obwohl es sich als Seebad eines gewissen Rufes erfreut. Als wir jedoch in Reinickendorf ausstiegen und die Wartehalle der neuen Bahnlinie betraten, klärte sich der Himmel bereits etwas auf. Die offene Halle machte ei- nen guten Eindruck, denn an ihren Wänden hingen allerlei Plakate, auf denen verschie- dene Biere und ein Likör mit dem anregenden Namen „Be- lebungsgeist“ sich dem öffent- lichen Wohlwollen empfahlen. Am meisten aber impo- nierte mir ein Täfelchen, das gleichzeitig „Grog, Punsch und Glühwein“ dem Durch- nässten anpries. Unsere Ge- sellschaft, in der sich jedenfalls nur platonische Temperenzler 2 befanden, genehmigte sich trotzdem nur einige flüchti- ge Cognacs. Wir mussten uns dann eilen, noch rechtzeitig in den bereitstehenden Extrazug zu gelangen in welchem gerade ein Fass Bier angesteckt wur- de. Der Zug bestand zwar nur aus einer Lokomotive und zwei Waggons, aber im Übrigen machte die Bahn einen durch- aus normalen Eindruck. Nicht nur dass ihr Oberbau sich als vollkommen widerstandsfähig erwies, auch die Lokomotive bimmelte nicht etwa, sondern pfiff ganz richtig, als hätte sie wer weiß wie viel Dampf über- flüssig. Ebenso war das Bier in jeder Beziehung normal. Wir fanden auch Zeit zu ernsteren Gesprächen, und Herr Regie- rungsbaumeister Steinfeld, der die Bahn gebaut hatte, und Herr Baumeister Becker fan- den reichlich Gelegenheit, uns über die Bedeutung der neuen Linie im Allgemeinen wie im Besonderen aufzuklären. So erfuhr ich, dass auch Berlin ein besonderes Interesse an der Erschließung des Nieder- Barnim hat, weil sie hier auf den Gütern Rosenthal und Blankenfelde bedeutende Rie- selfelder besitzt, deren Erzeug- nisse dringend einer schnelle- ren Überführung nach Berlin bedürfen. Die Stadt Berlin hat daher nicht nur ihr gehörigen Grund und Boden hergegeben, soweit er in Frage kam, son- dern auch für die Bahnhöfe und den sonstigen Bahnbau erheblich beigesteuert.“ Fortsetzung folgt im nächsten mühlenspiegel am 5. Juni 2015 1 Nuscha Butze (* 22. Februar 1860 in Berlin; † 10. Dezember 1913) war eine deutsche Theater- schauspielerin 2 Temperenzler sahen u.a. im totalen Verzicht auf Alkohol einerseits einen Ansatz zur Heilung von Alkoholkranken. Quellen Tombrink, Sven: 100 Jahre Heidekrautbahn / Geschichte und Geschichten (Hrg.: NEB) Opravil, Jürgen: Die Heidekrautbahn / 1999 Chronik Pankow Text: Karl-Heinz Schmidt Fotos: Sammlung W. Fledrich www.neb.de Der Verkehr der Postkutsche Berlin-Basdorf-Klosterfelde wurde 1901 eingestellt Ein Gruppenfoto mit Heidekrautbahn am Bahnhof Groß-Schönebeck um 1910 Die Heidekrautbahn unterwegs um das Jahr 1930 1902: Einfahrt in den Bahnhof Schildow

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