Mühlenspiegel 10

40 Neulich in Schildow ... aufgezeichnet von Erika Cipper G egen Ende des vorletz- ten Jahrhunderts hat sich Berlin rasant zu einer europäischen Metropole und zu einem Industrie- und Handelszentrum entwickelt, damit verbunden war ein ge- waltiger Ausbau des Verkehrs- netzes. Der Mietskasernenbau und die schnell wachsende Indus- trie in Berlin verlangten Roh- stoffe in bislang nicht gekann- ter Größenordnung. Wichtige Vorkommen an Holz, Torf und Ton für die Bauwirtschaft lagen in jenem Teil des Kreises Nie- derbarnim, der sich zwischen den großen nördlichen Fern- bahnlinien befand. Obwohl geographisch vor den Toren der Stadt gelegen, waren die Dörfer und Städte des Kreises tatsächlich Stunden von Ber- lin entfernt, dreieinhalb Stun- den, um genau zu sein, denn so lange brauchte die Postkutsche von Wandlitz zum Hauptpost- amt in Berlin Mitte. Zum Ver- gleich: Dresden konnte man von Berlin aus mit dem Schnellzug in 2 Stunden erreichen. Viele berlinnahe Orte und Gemein- den bemühten sich in dieser Zeit um eine schnellere Anbindung an Berlin, weil man sich dadurch eine Belebung des Wirtschafts- lebens erhoffte. Kleinbahnen im Einzugsbereich für unmit- telbar an Berlin angrenzende Orte wurden damals geneh- migt, da, begünstigt durch das 1892 erlassene „Preußische Kleinbahngesetz“, es einen kos- tengünstigeren Bau- und Be- trieb ermöglichte. Gebaut wurde die Heide- krautbahn von der „Reini- ckendorf-Liebenwalder-Groß S c h ö n e b e c k e r Eisenbahn-Aktien Gesellschaft“, die von den an Ber- lin angrenzenden Gemeinden und dem Kreis Nieder- barnim gegründet wurde. Der Ende März 1900 begonnene Bau ging zügig voran, so dass im Oktober die Erdarbeiten fast vollständig abgeschlossen wa- ren. So manche Schwierigkeit, die in der Natur der Strecke lag – wie Geländeerhebungen am Blankenfelder Berg, zu durchquerende Feucht- und Sumpfgebiete bei Schildow und Zühlsdorf wurden fachkundig gemeistert. Die Betriebsauf- nahme war darauf für den 13. Mai 1901 vorgesehen, wozu extra ein Salonwagen der „Kö- niglichen Eisenbahndirektion Berlin“ telefonisch dem Bahn- hofsvorsteher in Reinicken- dorf-Rosenthal angekündigt wurde, der die Abnahmekom- mission befördern sollte. Der große Tag der Bahn kam jedoch mit dem 20. Mai 1901, an dem die Strecke für den Personenverkehr einge- weiht wurde. Ein Franz Reim- herr aus Berlin führte als obers- ter Betriebsleiter den feierlich geschmückten Eröffnungszug binnen zweier Stunden nach Liebenwalde, wo die neue Bahnhofswirtschaft auf Kosten der Stadt ein opulentes Früh- stück servierte. Danach ging es weiter nach Groß-Schönebeck, dort stiegen die Gäste im Re- staurant Koch ab, um das Er- eignis mit einem Festessen ge- bührend zu feiern. Gegen 22:30 Uhr gelangte der von Station zu Station immer leerer gewor- dene Zug schließlich wieder in Reinickendorf-Rosenthal an. Ab dem 21. Mai 1901 brach- ten unter großer Anteilnahme der Bevölkerung fünf der Ten- derlokomotiven mit Personen- wagen der zweiten und dritten Klasse die ersten Fahrgäste nach Berlin wieder zurück in den Niederbarnim. Die Met- ropole lag nun tatsächlich vor der Tür, die Fahrzeit verkürzt sich um mehr als die Hälfte. Von unschätzbarem Wert war diese Erleichterung vor allem für eine besondere Klasse von Passagieren: die Berufspendler. Um die neue Bahnlinie in der breiten Öffentlichkeit bekannt zu machen, lud die Bahnver- waltung zu einer Sonderfahrt am 13. Juni 1901 ein, an der Persönlichkeiten aus Politik und Wirtschaft sowie Redak- teure von in Berlin und Um- Die Heidekrautbahn 1114 Jahre Geschichte und Geschichten - Teil 1

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