Mühlenspiegel 10
34 D as erste Interview machte ich mit Wolfgang Kaliga vor 18 Jahren für die Dorfchronik „Geschichten aus der Schildaue“. Damals ging es vor allem um die Fahrrad- Aufbewahrung, die 1936 als älteste in Deutschland in Schildow gegründet worden war. Von Fritz Schwertfeger, den man fortan in Schildow kurzweg den „Fahrradfritzen“ nannte, eine Bezeich- nung, die auch die nachfolgenden Besitzer automatisch „erbten“, unabhängig von ihren jeweiligen Taufnamen. So auch Wolfgang Kaliga, der 1982 mit Ehefrau Ute den Betrieb übernahm und sich bewusst in die Tradition einreihte: Aufbewahrung mit Werkstatt. Defekte Drahtesel, Schreibmaschinen und Nähmaschinen je- der Art und jeden Alters werden von beiden – auch Ute ist gelernte Mechanikerin – wieder in Gang gebracht. Meine „Singer“, die laut Kaliga „noch übern großen Teich geschwommen“ sei, bevor die Firma ihre Niederlassung in Deutschland gründete, wurde hier repariert, und, den neuen Tonarm für mein uraltes Schellackplat- ten-Grammophon hat Wolfgang eigenhändig geschweißt.“ In die- sem Jahr feiern Kaligas, die seit zwei Jahren auch ihre Wohnung über der Werkstatt haben, also nun „ganz echte“ Schildower sind, nun ihr 33jähriges Firmenjubiläum. Dem Ingenieur Wolfgang Ka- liga war dieses Berufsziel nicht in die Wiege gelegt worden. Seine Kindheit inThüringen und Berlin, schön aber streng, wurde geprägt von der Liebe der Frauen und dem Elitestreben der Famili- enoberhäupter. Mit zwölf baute er Flugmodelle, mit 14 glühte er dafür, den So- zialismus zu verteidigen, mit 16 kam er auf die Flie- gerschule in Schönhagen, mit 18 als Offiziersschüler zur Volksarmee mit drei- jähriger Spezialausbildung für Flieger. Bald wurde ihm die Diskrepanz zwischen der lauthals erklärten Frie- denspolitik der DDR und ihrer militärischen Wirklichkeit be- wusst. Er erinnerte sich der ernsten Mahnung seines Schönhage- ner Fluglehrers Fritz Fliegauf, sich nicht missbrauchen zu lassen. In dieser Zeit begann er zu zeichnen und zu malen, versah seine Bilder mit kritischen Kommentaren und Gedichten, in Spiegel- schrift, also nicht auf den ersten Blick zu entschlüsseln – es war eine Art Ventil. Satirische, oft bitterböse Bildgeschichten entstan- den. Todbringende Flugzeuge über blühenden Landschaften; das „L“ in „Chile“ wurde umgedreht zum Galgen; in einem Linol- schnitt assoziierte er das alte Arbeiterlied „Proletarier aller Län- der ...“ mit Bomben über und Kreuzen unter der Weltkugel deren Vereinigung – im Tod. Die Reaktion seiner Vorgesetzten: Aus Ausstellungen, die er anfangs noch gestalten durfte, wurden Exponate entfernt, viele beschlagnahmt. 97 Bilder, fast die Hälfte seiner Arbeiten, ver- schwand auf Nimmer-Wiedersehen. Sachen gibt ´s ... Das merkwürdige Hobby des Schildower Fahrradfritzen MENSCHEN ZEICHENSPRACHE Die Kunst, in Spiegelschrift zu schreiben, beherrscht Wolfgang Kaliga perfekt. Anfangs war es ein stiller Protest, eine Art Ventil gegen die Skrupellosigkeit der Macht. Seine Fertigkeiten, mit Schrift umzugehen, beein- druckt bis heute jeden Betrachter
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